Im Kindergarten waren wir Cowboys. Gegen Indianer. Oder umgekehrt. Manchmal auch miteinander. Oder durcheinander. In der Schule war dann Kriegsspiel angesagt. Stoßtrupps aus winzigen Soldätchen und dazu zwei oder drei Weltkriegspanzer, die wir mit Uhu übergossen und anzündeten. Dabei hatten wir dass besondere Glück, dass der Vater eines meiner engen Kindergarten- und Grundschulfreunde alles über Panzer wusste und uns auch zu erklären bereit war. (Außerdem konnte er irgendeinen asiatischen Kampfsport und stellte selber Messer mit feststehender Klinge her, die teilweise auch an den Wänden hingen.) Sehr netter Typ. Ein Traumvater im Grunde. Später kam Risiko. Bündnisse schmieden und brechen. Risiko war im Vergleich zu Panzer Abfackeln ein intellektueller Rausch, in dem wir manchmal über das Spiel hinaus in Streit gerieten. Es ging ja schließlich um die Weltherrschaft. Grundschüler waren wir damals.

Ab Klasse fünf brachte man uns dann auch in der Schule endlich bei, was wir zumeist schon von zuhause aus wussten. Dass Krieg kein Spiel ist. Dass wir Deutschen zwei Weltkriege verloren und den Holocaust begangen hatten. Und dass unser Land deswegen geteilt war. Wir lernten, dass die Indianer ausgerottet worden waren, und, dass man eigentlich überhaupt nicht Indianer sagen darf, weil es eine Fremdbezeichnung ist, die auf den bekannten Irrtum von Christoph Columbis zurückging. Wir lernten: Nie wieder darf Krieg von deutschem Boden ausgehen. Nein, wir lernten das nicht. Es wurde uns eingeimpft. Wieder und wieder und wieder.

Später habe ich, genau wie gefühlt gut die Hälfte meines Jahrgangs und die Mehrheit meines Freundeskreises, verweigert. Dazu musste jeder seine Gewissensnöte glaubhaft machen – schriftlich. Zuvor jedoch stellte man üblicherweise einen mündlichen Antrag. Das tat man auf dem Kreiswehrersatzamt zur Musterung. Mein Bescheid zur Musterung war gezeichnet vom Vorsitzenden der Kommission, der – sehr zu meinem Missbehagen – kein anderer war, als besagter Vater meines Kindergarten- und Grundschulfreundes. Meine Hoffnungen, nach all den Jahren würde er mich ja vielleicht gar nicht mehr erkennen, zerstieben in dem Moment, als ich ihm gegenübertrat und er mich im Angesicht der Bundesflagge wie einen alten Bekannten aufs Freundlichste begrüßte, um sich sogleich nach dem Befinden meiner Eltern zu erkundigen. Dann ging alles wie von selbst. Ich hörte mich sagen: „Hiermit verweigere ich aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe gemäß Grundgesetz Artikel sounsso Absatz soundso.“ Was war ich nur für eine Enttäuschung, so dachte ich mir. Er aber nahm das nicht einfach nur professionell, sondern verabschiedete mich (fast) ebenso freundlich, wie er mich empfangen hatte. Dafür bin ich ihm immer noch dankbar.

Heute erkläre ich Manches meinem Sohn. Seit Jahrzehnten zünden Kinder keine Soldätchen mehr an. Wir achten auf korrekte Termini. Sprechen von ‚American Natives‘, von ‚Native Americans‘ oder von ‚Indigenous People‘. Wir stellen uns dabei dann gerne naturverbundene Heilige vor, mit sich und der Welt im Frieden – bis der Weiße Mann seinen Fuß auf ihren Kontinent setzte. Und ich frage mich: Wie steht es heute um unsere Fähigkeit, andere zu verstehen? Oder überhaupt verstehen zu wollen? Haben wir noch das Vermögen geschweigedenn den Willen, jemanden auszuhalten, dessen Weltsicht und Lebensweise nicht die unsere ist? Oder wollen wir, dass alle, die wir für ungerecht erachten, brennen, wie damals unsere kleinen Weltkriegspanzer? Vielleicht ist der Krieg ja einfach schon etwas zu lange her